Gedanken zur Richtlinie VDI 4605 „Nachhaltigkeitsbewertung“
„Wir brauchen eine Ökobilanz, sonst ist das Screening kaum machbar.“ Zugegeben, das ist jetzt etwas überspitzt. Doch leider drängte sich mir dieser Eindruck auf beim Workshop zur Richtlinie VDI 4605 „Nachhaltigkeitsbewertung“ am 09.06.2016 in Düsseldorf. Der zuständige Arbeitskreis stellte den Stand der Arbeiten an der Richtlinie vor, die im September 2017 veröffentlicht werden könnte.
Ziel des vorgeschlagenen Vorgehens ist, dass Ingenieure Nachhaltigkeitsaspekte in den Entwicklungsprozess einbeziehen und abwägen können. Dazu wird Nachhaltigkeit operationalisiert als Reduzieren der Umweltbelastungen und sozial unerwünschter Auswirkungen sowie die Förderung positiver sozialer Wirkungen und eine Verbesserung der Wertschöpfung. Man orientiert sich an den vier Leitlinien aus der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung: „Generationengerechtigkeit“, „Lebensqualität“, „Sozialer Zusammenhalt“ und „Internationale Verantwortung“. Davon ausgehend wurde der Versuch unternommen, ein schlankes Indikatorensystem in den Dimensionen Ökologie, Ökonomie und Soziales zu entwickeln.
Hier liegt das Kernproblem im Ansatz: die gewählten Indikatoren beziehen sich auf unterschiedliche Systemgrenzen (von betrieblich bis volkswirtschaftlich) und vermengen Ursachen, Wirkungen und Bewertungen. Aus gutem Grund hat man sich bei der Entwicklung der Ökobilanzierung nach ISO 14040 und 14044 für eine strikte Trennung entschieden: die Sachbilanz listet Stoff- und Energieströme; die Wirkungsabschätzung schätzt potenzielle Umwelteinflüsse am sog. Mid-point der Ursache-Wirkungskette ab; die Interpretation nimmt subjektive Bewertungen vor. So aber nennt der Entwurf zum einen Luftemissionen wie Staub und Stickoxide sowie Lärm und zum anderen den Einfluss auf geschützte Arten sowie Todesfälle als Indikatoren.
Die eigentlich erfreulich einfache Methode wertet jeden Indikator lediglich mit „besser“ (+1), „etwa gleich“ (0) oder „schlechter“ (–1) aus. Im besten Fall verzerren Doppelzählungen daher „nur“ das Ergebnis, weil etwa ein hoher Strombedarf aus konventionellen Kraftwerken unter Energieeffizienz, Luftemission, Treibhausgasemission und Kindersterblichkeit erfasst wird. Ein alternatives Produkt mag durch Einsatz von Biomasse eine Überdüngung von Flächen und Grundwasserbelastung bedingen. Dabei wiederum wird eine große forstwirtschaftliche Fläche negativer bewertet als ein kleinflächiger Kiesabbau. Infolgedessen bietet m.E. das Verfahren für den entwickelnden Ingenieur noch nicht die notwendige Richtungssicherheit und Entscheidungsunterstützung.
Im schlimmsten Fall fehlen fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse über Wirkungszusammenhänge oder werden kontroverse Studien herangezogen (Glyphosat, Phthalate), die eine Bewertung von Werkstoffen, Produkten und Systemen zum Hasardspiel machen. Sämtliche Beispiele im Richtlinienentwurf nehmen auf bestehende Ökobilanzen und andere Studien Bezug. Ohne diese Primärliteratur gilt das Verfahren als aufwändig, etwa ein halbes Jahr Recherche mit fraglichem Ausgang.
Bei aller Kritik darf nicht übersehen werden, dass diesem Richtlinienentwurf durchaus eine wesentliche Bedeutung zukommt. Die Ausgangsfragestellung, wie ökosystemische Grenzen des Wachstums und gesellschaftliche Normen des Wirtschaftens in die Entwicklungsarbeit des Ingenieurs einfließen können, ist weiterhin drängend. Halten wir zunächst fest, dass die Wirkungsabschätzungen durch Umwelt- und Sozialbilanzen in den letzten Jahrzehnten einigermaßen robust gelöst wurden. Der Umgang mit Komplexität und Unsicherheit bedingt eben aufwändige Studien mit hohem Zeit- und Datenbedarf. Hier kann ein Screeningverfahren nichts verbessern, außer den Blick auf Wesentliches zu richten. Dies wäre meine erste Forderung an die VDI 4605: den Untersuchungsrahmen abstecken und den nachfolgenden Aufwand für vertiefende Ökobilanzen verringern. Entsprechende Vorschläge macht auch die Europäische Kommission in ihrer Entwicklung eines Umweltfußabdrucks für Produkte (PEF).
Meine zweite Forderung ist die Schaffung eines entwicklungsbegleitenden und dialogorientierten Verfahrens. Entwicklungsingenieure aus verschiedenen Fachabteilungen sollten unter Einbeziehung von Produktmanager, Einkauf, Produktionsleiter, Lieferanten und Kunden diese Bewertungen iterativ in Workshops durchführen können. Und hier sehe den Richtlinienentwurf als wegweisend. Es ist von herausragender Bedeutung, das Thema nachhaltig orientierte Produktentwicklung aus dem Hinterzimmer der Experten herauszuholen, ohne in Marketingsprech zu verfallen. Und hier hat m.E. der VDI mit dem halbquantitativen Screening genau den richtigen Ansatz gewählt. Dabei hilft auch, dass modular auf vertiefende VDI-Richtlinien wie Ressourceneffizienz und ISO-Normen wie Ökobilanz verwiesen wird. Es bleibt also zu hoffen, dass den Arbeitskreis der Balanceakt aus Komplexitätsbewältigung und Vereinfachung zu einem wichtigen Meilenstein führt.
Zur Berichterstattung des VDI: https://www.vdi.de/technik/fachthemen/energie-und-umwelt/fachbereiche/strategische-energie-und-umweltfragen/themen/vdi-4605-nachhaltigkeitsbewertung/