Produktmanagement – Agil & nachhaltig (Teil 6): Produktentwicklung & Markt
Stufe 3: Agile & Nachhaltige Produktentwicklung
Bislang haben wir uns mit der Optimierung des Vorhandenen beschäftigt: zunächst mit dem eigenen Unternehmen, dann mit dessen Lieferkette. Doch nun ist es an der Zeit, Neues zu entwickeln. Und diese Innovation ist eben nicht auf eine bloße Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit im gegenwärtigen Markt ausgerichtet. Vielmehr geht es um die klare Manifestierung des Unternehmenszwecks und gleichzeitig um die Anpassung an das veränderte Umfeld – die in der ersten Folge beschriebene VUCA-Welt. Den Unternehmenszweck in einem Produkt als die gegenwärtig beste Antwort auf das Kundenbedürfnis zu manifestieren, das ist agil. Dabei alle Produktions- und Umfeldfaktoren selbst bei Knappheit und Verletzlichkeit (Vulnerabilität) auskömmlich und verträglich zu managen, das ist nachhaltig.
Herausforderung
Die Herausforderung dieser Entwicklungsstufe besteht darin, Mehrwertangebote zu entwickeln bzw. vorhandene zu verbessern, so dass ein evolutionärer Schritt vollzogen wird: das beinhaltet die agile Optimierung (Unternehmenszweck und Kundennutzen) ebenso wie die nachhaltige Optimierung (Ressourcenschonung und Resilienz gegenüber Schwankungen und Störungen).
Beispiel: Das Wohnen ist ein zentrales Bedürfnisfeld, und bebauter bzw. umbauter Raum ist eine wesentliche Herausforderung sowohl für die Ressourceneffizienz als auch für Sozial- und Umweltverträglichkeit. Während ein Fensterbauunternehmen im ersten Reifegrad die Vorgaben der Energieeinsparverordnung durch innovative Designs mit Mehrkammerprofilen einhält, wird es im zweiten Reifegrad bereits die Hersteller von PVC-Profilen, Glas und Beschlägen mit in die Pflicht nehmen – und im dritten Reifegrad könnte es die Funktionen Licht, Lüften und Sicherheit mit völlig anderen Elementen lösen, über geschlossene Materialkreisläufe und Fenster-Konfiguration in Webshops nachdenken. Dabei wird der Unternehmenszweck zum Kompass, denn das sicherste Fenster wird anders aussehen als ein designprämiertes Fenster.
Prinzipien
Betrachten wir also den dritten Reifegrad hinsichtlich der vier Prinzipien:
- Effektivität: Wir bieten ein Produkt bzw. eine Dienstleistung, das unseren Unternehmenszweck erlebbar macht und durch unseren Service unverwechselbar und unnachahmlich ist.
- Effizienz: Wir erreichen Mehr mit Weniger durch Hochleistungsprodukte; zudem erbringen wir zumindest einen erheblichen Anteil des Kundennutzens mit einer Dienstleistung (Everything as a Service, XaaS) anstelle eines materiellen Produktes und tragen so zur Dematerialisierung bei.
- Suffizienz: Indem wir unsere Wertschöpfung von der Materialintensität entkoppeln, können wir unser Geschäftsmodell skalieren, ohne begrenzte Ressourcen und empfindliche Schutzgüter übermäßig zu beanspruchen; auch der Verzicht auf bestimmte Technologien fällt leichter, wenn wir die Produktentwicklung komplett neu überdenken.
- Konsistenz: Wir betten unser (Service-) Produkt maßgeschneidert in den Kontext unserer Lieferkette und in die Lebensumstände unserer Kunden ein.
Das Prinzip der Effizienz erreicht bei Umsetzung in der Produktentwicklung seinen Zenit. Inzwischen nimmt die Effektivität einen deutlich größeren Stellenwert ein, denn es geht darum, das Richtige zu tun. Während wir bei der Effizienz uns nicht zuletzt am Mitbewerber messen lassen, beginnen wir nun mit der Schaffung eines konkurrenzfreien Marktes. Auch Suffizienz und Konsistenz verlieren den puritanischen Beigeschmack von Verzicht und Einschränkung, wenn wir auf diese Weise ein gesellschaftliches Bedürfnis ohne unverhältnismäßige Risiken und Nebenwirkungen erfüllen. Erinnern Sie sich an die VRINOC-Ressourcen aus dem zweiten Teil dieser Artikelserie? Indem unsere Kernkompetenzen unnachahmlich und unersetzlich zu einem (Service-) Produkt gebündelt sind, wird es nun seinerseits für unsere Kunden zu einer VRINOC-Ressource.
Organisation
Der integralen Theorie von Wilber (2001) und Laloux (2014) zufolge gelangt die Entwicklungsstufe Orange (leistungsorientiert, hierarchisch) hier an ihre Grenzen: sie kann zwar eine Effizienz erster Ordnung gewährleisten, indem sie die Produktivität steigert und den Ressourcenaufwand minimiert, um so wettbewerbsfähig zu sein. Doch eine Effizienz zweiter Ordnung durch die Entkopplung des Kundennutzens von der Ressourcenintensität (Effektivität und Dematerialisierung) fällt ihr schwer. Hier ist die Entwicklungsstufe Grün (werteorientiert, pluralistisch) klar im Vorteil, indem sie die stärker ethisch motivierten Prinzipien Effektivität, Suffizienz und Konsistenz in der Unternehmenskultur verankert. Mit der Entwicklungsstufe Türkis (ganzheitlich, evolutionär) gibt es eine – bislang in der Unternehmenswelt noch sehr seltene – Ausprägung, der dies durch Anwendung systemischer Prinzipien und beispielsweise Biologisierung noch besser gelingt.
Um die anstehenden Aufgaben zu unterstützen, sollte unser ERP-System (Enterprise Resource Planning) folgendes leisten:
- Integration von Nachhaltigkeitsindikatoren ins Produktdesign und Projektmanagement, bspw. durch Bestimmen des ökonomisch-ökologischen Fußabdrucks in CAD-Systemen und Stücklisten oder durch entsprechende Ziele im Projektcontrolling;
- Fördern des ganzheitlichen Denkens (Footprint Literacy), bspw. indem das Controlling allen Managern bzw. produktiven Teams für ihren jeweiligen Entscheidungsbereich Fortschrittsindikatoren mit Bezug auf den Ressourcenaufwand bereitstellt.
Genau für diesen Zweck eignet sich die erweiterte Prozesskostenrechnung – das Activity-based Footprinting (ABF) – ganz hervorragend: die Produktivität als Kundennutzen pro Ressourcenaufwand wird zur universellen Leitgröße, ganz gleich ob es sich bei den jeweils relevanten Ressourcen um finanziellen Aufwand, Facharbeiterstunden, knappe Rohstoffe oder begrenzte Ökosystemkapazitäten handelt.
Kompetenzen
Stage 3 competencies:
The skills to know which products or services are most unfriendly to the environment.
The ability to generate real public support for sustainable offerings and not be considered as “greenwashing”.
The management know-how to scale both supplies of green materials and the manufacture of products.
(Nidumolu et al. 2009)
Wichtige Kompetenzbereiche unseres Unternehmens sind:
- Wir können Produkte hinsichtlich ihrer nachhaltigen Leistungsfähigkeit unterscheiden: Entweder verwenden wir dazu einen relativen Ansatz und vergleichen verschiedene Entwürfe auf Kundennutzen pro Ressourcenaufwand. Oder wir verwenden einen absoluten Ansatz und erstellen eine (ethisch-technische) Norm, die produktspezifische Anforderungen an Effektivität, Suffizienz und Konsistenz in nachprüfbarer Weise festschreibt.
- Wir können relevante Stakeholder für unsere Lösungen gewinnen: Gerade unsere disruptiven Produktinnovationen stoßen auf Akzeptanz statt Zynismus, überzeugen also durch ihre nachweisliche Vorteilhaftigkeit. Unser Marketing und Vertrieb werden nicht der Schönfärberei bezichtigt.
- Wir können nachhaltige Lösungen skalieren: Unsere Produkte sind nicht für eine verschwindend kleine Nische gemacht, sondern können Märkte transformieren und gesellschaftliche Fragestellungen verträglich lösen. Wir sind in der Lage, sowohl Beschaffung und Herstellung als auch Absatz im großen Maßstab zu leisten.
Für diesen Reifegrad benötigen wir zumindest ein visionäres, eher sogar ein hochleistungsfähiges Produktmanagement („High Performance“). Das Produktmanagement steuert dann das gesamte Unternehmen mit seiner Wertschöpfung im Hinblick auf Kunden- und Marktbedürfnisse.
Innovationen
Stage 3 opportunities:
Applying techniques such as biomimicry in product development.
Developing compact and eco-friendly packaging.
(Nidumolu et al. 2009)
Als einer der weitreichendsten Ansätze innovativer Produktentwicklung mag die Bionik gelten: zum einen macht sie sich die Errungenschaften der Evolution – optimierte Materialien, Strukturen und Prozesse –zunutze, zum anderen kann sie Konsistenz durch verträglichere Einbettung technischer Lösungen in die natürliche Umwelt erreichen. So erzielen Flugzeugbauer durch bionische Leichtbaulösungen weitere Gewichtsersparnisse und damit Emissionsreduzierungen. Bei orthopädischen Implantaten lässt sich die Gefahr einer Abwehrreaktion des menschlichen Körpers verringern. Betonbauwerke können spannungsbedingte Risse dank kalksteinbildender Bakterien selbst heilen. Im Sinne einer Biologisierung der Technik werden cyberphysikalische Produktionssysteme vernetzt und zyklisch gestaltet, was dynamikrobuste und ultraeffiziente Fabriken (Zero Emission) ermöglicht. Interessanterweise steigt also die Resilienz der Organisation – sowohl des sozialen als auch des technischen Systems. Mit dieser erwünschten Folgewirkung werden wir uns im abschließenden Artikel dieser Serie noch genauer beschäftigen.
Beispiel: Im Zuge der Digitalisierung und Vernetzung verändern sich materielle Produkte und Produktionstechnologien grundlegend: Der Kunde wird zum „Prosumer“ und konfiguriert über eine webgestützte App sein Wunschprodukt. Dessen digitaler Zwilling wird auf 3D-Drucker gesendet, die als verteilte Produktionskapazitäten zur Verfügung stehen. Die Technologie bedingt eine veränderte Materialpalette, indem beispielsweise Polyamid PA12 oder Polylactid PLA als Filament verwendet wird. Es kommen also sowohl fossile als auch nachwachsende Rohstoffe in Frage. Gegenwärtig sind beide Polymer noch verhältnismäßig teuer, so dass sowohl technologische als auch wirtschaftliche Kenngrößen komplett anders aussehen als bei konventioneller Kunststofftechnik. Zudem gibt es prozessbedingt noch recht hohe Verluste und Ausschuss des wertvollen Materials, und auch beim Kunden kann ein nicht ganz unerhebliches Abfallaufkommen entstehen. Erst kürzlich werden Recyclingverfahren für PA12 entwickelt, so dass sich nun der Entsorgungsweg von Produktionsabfällen und Produkten verändert. Sofern eine entsprechende Logistik kostendeckend aufgebaut werden kann, entstünde ein Sekundärrohstoffmarkt, der die Herstellkosten nochmals verändern würde. Alles ist in Bewegung: ein Unternehmen, das in diesem dynamischen Umfeld – einer wahren VUCA-Welt – tätig sein will, benötigt ein in hohem Maße agiles und nachhaltiges Produktmanagement.
Fazit
Die dritte Entwicklungsstufe bringt (Service-) Produktinnovationen hervor, die den Unternehmenszweck klar manifestieren: sie stellen die gegenwärtig beste Antwort auf das Kundenbedürfnis dar und sind gleichzeitig ressourcenschonend und dynamikrobust. Wegen der tiefgreifenden Voraussetzungen in Bezug auf Unternehmenskultur und Organisationsentwicklung sind gegenwärtig nur verhältnismäßig wenige Unternehmen dieser Art am Markt vertreten. Das Produktmanagement nimmt eine Schlüsselrolle ein, diesen Transformationsprozess voranzutreiben, denn es verknüpft Kunden, Markt und Produktionssysteme. Bislang ist das Produkt dafür noch der Kristallisationspunkt, doch in der abschließenden Folge dieser Serie transzendiert das Produktmanagement auf die Ebene der Geschäftsmodelle.
Literatur
- EcoChain: Website https://www.ecochain.com/en/home, Zugriff am 10.03.2017.
- Laloux, F.: Reinventing Organizations. Nelson Parker, 2014.
- Nidumolu, R.; Prahalad, C. K.; Rangaswami, M. R.: Why Sustainability is now the key driver of innovation. In: Harvard Business Review, 2009 (Reprint R0909E).
- Wilber, K.: A Theory of Everything – An Integral Vision for Business, Politics, Science and Spirituality. Shambhala, 2001.
Teil 1: Sichtflug durch den Dschungel – der veränderte Kontext
Teil 2: Fitness-Check – Ressourcen & Kompetenzen
Teil 3: Upgrade des Betriebssystems – Entwicklungsstufen eines Unternehmens
Teil 4: Hausaufgaben gemacht – Konformität als Chance
Teil 5: Nur so stark wie ihr schwächstes Glied – Partnerschaft in Wertschöpfungsketten
Teil 6: Mehr mit Weniger – Produktentwicklung & Markt
Teil 7: Blauer Ozean – neue Geschäftsmodelle